‚Hat sich die Operation gelohnt?‘ Fragen dieser Art kann man
sich im Nachhinein als Operierter nur dann stellen wenn man sich bewusst für
eine Operation entschieden hat, wenn man sie geplant und vorbereitet hat.
Verletze aus Verkehrsunfällen, der vom akuten Herzinfarkt Betroffene oder der
Beinbruch eines Sportlers sind Beispiels von ‚Operierten‘ welche keine andere
Wahl hatten. Sie haben sich nicht für eine Operation entschieden, sie geplant
oder gar vorbereitet.
Es ist eine schwierige Frage, die mich seit der Operation
immer wieder auf unterschiedliche Art einholt. Meist tritt sie zu Tage wenn man
sie nicht erwartet. Es sind oft die Momente der Besinnung, der Ruhe und
Entspanntheit, in denen der Mensch für kurze Zeit sich aus der Hektik des
Alltags lösen kann um völlig zeitlos und bedingungslos das zu tun was wir heute
unter ‚reflektieren‘ verstehen. Diese Momente bieten mir immer wieder den Platz
über vergangene Entscheidungen nachzudenken, sie zu bewerten und sie unter
verschiedenen Aspekten betrachten.
Woran soll man es fest machen? Wie kann man die Frage ob es
sich gelohnt hat denn überhaupt beantworten? Kann man es messen? Vielleicht in
Geld? In der Finanzökonomie spricht man in diesem Zusammenhang häufig von der
Vorteilhaftigkeit einer Investition. Hat sich die Investition in meinen Körper gelohnt?
Aus wessen Sicht denn eigentlich ‚gelohnt‘? Vielleicht aus Sicht der
Krankenkasse? Während ich zeitlos reflektiere überkommt mich folgender
Sachverhalt. Wenn man meine ‚Krankenakte‘ seit Beginn des Lebens bis heute
statistisch und qualitativ auswerten würde, könnte man dadurch zumindest für
meinen Fall erkennen, dass sich die Operation rein monetär betrachtet aus Sicht
der Kasse gelohnt hat? Ich war seit Kindheit bis zum Zeitpunkt der
Trichterbrustoperation auffallend häufig von Atemwegserkrankungen betroffen. In
der Herbst- und Winterzeit war es im Prinzip ein ständiger Rhythmus aus ‚krank
werden‘ und ‚gesund werden‘. Der Bereich der Bronchen war davon stets
betroffen. Dementsprechend war ich oft in hausärztlicher Behandlung. Es war in
den letzten Jahren vor der Operation meist so, dass meine chronische Bronchitis
nur noch unter Einsatz von Antibiotikabehandlung ‚geheilt‘ werden konnte. Seit
der Trichterbrustoperation in Jahr 2004 nahmen meine Leiden mit den Bronchen
immer mehr ab. Ich bekam im weiteren Verlauf bis heute niemals mehr Antibiotika
zur Behandlung von Bronchitis.
Auch hatte ich vor der Operation stets eine krumme Haltung.
Die Schultern, letztlich auch als Spiegelbild der inneren Haltung, waren stark
nach vorne eingefallen. Jeder, der einmal einen Bügel quer durch seinen
Brustkorb geschoben bekommen hat, fein akkurat unter dem vorher gebrochenen
Brustbein sowie Rippen verlaufend, kann bestätigen, dass spätestens dann
Schluss ist mit krummer Haltung. Ich hatte damals direkt nach der Operation das
Gefühl ‚frisch gespannt‘ zu sein, regelrecht ‚verbogen‘. Noch etwas ungewohnt,
aber man begann sich zunehmend an das neue Körpergefühl zu gewöhnen. Ich war
damals nach der Operation tatsächlich auch etwas ‚größer‘ als vorher.
Im Sport war ich vor dem Trichterbrusteingriff im Vergleich
zu Gleichaltrigen meist etwas schwächer. Auch mit Übung stellte sich bei mir
immer ein deutlich bemerkbarer Konditionsnachteil heraus. Aus solchen
körperlichen Leiden entstehen dann oftmals auch psychische Nebeneffekte. Dadurch,
dass man keine Kondition hat verliert man zunehmend die Lust am Sport. Dies hat
dann langfristig auch wieder ungünstige Nebeneffekte auf die Gesundheit. Denn,
dass Sport kein Mord ist sollte heute jeder wissen! Die Bronchitis hatte
oftmals zur Folge, dass ich nicht am Schulunterricht teilnehmen konnte. Nicht
nur dass man den Schulunterricht verpasst. Man nimmt für diese Tage nicht am
gesellschaftlichen Leben teil. Man fühlt sich so wie man ist. Krank.
Man könnte jetzt die Kosten der Operation den zukünftigen
Minderkosten gegenüberstellen, welche die Krankenkasse nicht mehr aufwenden
muss um mich zu heilen. Es handelt sich dabei um Opportunitätskosten. Kosten,
welche dadurch entstünden, dass ich eben nicht operiert worden wäre. Also die
jährlichen Ausgaben für Antibiotikabehandlung chronischer Bronchitis. Ausgaben
der Krankenkasse für Rückenschulen und Physiotherapie zur Korrektur der Körper-
und Rückenhaltung. Kosten, die unter Umständen in meinem späteren Lebensverlauf
dadurch entstanden wären, dass ich eben nie operiert wurde.
Schnell wird mir klar, dass all diese Versuche der monetären
Bemessung zum Scheitern verurteilt sind. Schließlich wird man nie sagen können,
was passiert wäre wenn man sich nicht operiert hätte. Welche Folgen es gehabt
hätte. Welche Sekundärerkrankungen sich im Laufe meines Lebens geäußert hätten.
Es handelt sich wie so oft im Leben um ein ‚With-or-without‘ Problem. Dadurch,
dass man sich historisch für eine Alternative entschieden hat (zugunsten einer
anderen) kann man die andere, die Opportunität niemals beurteilen.
Ein weiterer Zugang zur Beantwortung der Frage, völlig
losgelöst von geldwerten Vorstellungen, finde ich schließlich in mir selbst. ‚Hat
sich die Operation gelohnt?‘ Ich stelle fest, dass es im Wesentlichen drei
Faktoren waren, die mich vor der Operation antrieben eben jene zu planen und
organisieren: Außerwahrnehmung, Innenwahrnehmung, medizinische Unwissenheit!
Erstens, war da die ‚Außenwahrnehmung‘. Bis heute lese ich
regelmäßig in Foren wie diesen, auch wenn ich mich nicht mehr aktiv ins
Geschehen begebe. Ich stelle immer wieder fest, dass viele Betroffene
offensichtlich darunter leiden, wie sie von Dritten wahrgenommen werden. Ihnen
ist von großer Bedeutung, wie der Freundeskreis, die besten Kumpels oder die
neue oder gar erste Liebe über ihre Trichterbrust urteilen. Es hat den
Anschein, dass die Wenigsten selbst eine eigenständige Meinung und Einstellung
oder gar Überzeugung von und zu ihrer Trichterbrust haben. Und an diesem Punkt
kommen wir zu Faktor zwei: die ‚Innenwahrnehmung‘. Ich glaube sagen zu können,
dass ich meine Trichterbrust eigentlich gemocht habe. Nicht dass ich sie hübsch
fand. Nein, aber ich habe mich selbst immer versucht zu akzeptieren wie ich
bin, so wie mich Gott geschaffen hat. Wie andere Jugendliche fand auch ich es
im Sommer unglaublich schön, mein T-Shirt auszuziehen, in das kühle Wasser
eines Sees oder gar des Meeres zu springen und darin zu baden. Auch ich habe
mit Trichterbrust meine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht. Und ganz ehrlich,
es war bestimmt nicht schlechter als mit ‚ohne Trichterbrust‘. Bleibt eine
Frage: Wenn ich mit mir im ‚Reinen‘ war, wenn es nicht meine ‚Innenwahrnehmung‘
war, warum habe ich mein T-Shirt niemals ausgezogen? Warum habe ich mir so
selten im Sommer eine frische Abkühlung im Schwimmbad gesucht? Warum, habe ich
mich vor anderen, vor Kumpels und vor Mädchen geschämt? Man kann es drehen, wie
man will: Es läuft spätestens an diesem Punkt wieder auf die ‚Außenwahrnehmung‘
hinaus.
Ich stelle fest, dass die psychischen Leiden eines
Trichterbrustbetroffenen in der Regel durch ein Zusammenspiel von
Selbstwahrnehmung sowie der Außenwirkung Dritter bestimmt sind. Wir leben nach
Vorbildern, verfolgen Ideale und auch Vorstellungen von Schönheit und Ästhetik.
Die Medien sind ein Paradebeispiels dafür, wenn es darum geht solche Ideale
über Schönheit und Ästhetik in den Köpfen der Gesellschaft und auch Einzelner
zu manifestieren. Jeden Tag illustrieren sie uns auf beeindruckende Art wie man
zu sein hat, was normal ist, was unnormal ist. Wir denken in Schubladen, denken
binär in Schwarz und Weiß ohne dabei die Schönheit der Graustufen und die Besonderheit
kleiner Nuancen zu erkennen. Es gibt Schwarz und Weiß, Schönheit und
abgrundtiefe Hässlichkeit, Intellekt und Dummheit sowie Reiche und Arme. Wir
wollen normal sein, wollen durchschnittlich sein, wollen so sein wie jeder ohne
dabei zu berücksichtigen, dass keiner so ist wie der andere. Jeder der im
Durchschnitt ist der ist dann ‚normal‘. Und was ist mit den anderen, was ist
mit den Menschen, die nicht diesen Durchschnitt anstreben? Die nennen wir dann ‚unnormal‘.
Ich sage: sie sind nicht unnormal sondern etwas ganz besonderes. Wenn ich den
ganzen Tag zu Hause bin ziehe ich normale Kleidung an und wenn ich mal abends
auf einen Geburtstag, eine Party oder ins Theater gehe, dann ziehe ich etwas ‚besonderes‘
an. Mit Sicherheit nichts ‚unnormales‘.
Ich werde die anfangs aufgeworfene Frage niemals final
beantworten können. Jedoch will ich an dieser Stelle ein paar Fakten zu meinem
Leben seit der Trichterbrustoperation nennen (wir sprechen über einen Zeitraum
von ca. 7 Jahren):
Seit der Operation leide ich nicht mehr unter chronischer
Bronchitis, insgesamt ist mein Immunsystem wesentlich stärker geworden. Ich bin
nicht mehr so häufig krank, was sicherlich auch auf meine innere Einstellung
und Haltung zurückzuführen ist. Ich bin wesentlich leistungsfähiger geworden,
sowohl im sportlichen Umfeld als auch in Bereichen des Lernens und des
Konzentrierens. Im Studium bringe ich so gute Leistungen wie noch nie zuvor in
meiner Schullaufbahn. Ich habe Lust am und auf Sport. Ich mache regemäßig
Krafttraining, laufe ab und an gerne. Ich habe meine Leidenschaft zum
Kitesurfen entdeckt und genieße es auch dort mich ohne T-Shirt zeigen zu
können. Ich gehe offener und impulsiver auf Menschen zu. Bin selbstsicherer und
strahle dies auch aus. Ich komme schneller mit Menschen ins Gespräch und kann
meinen Standpunkt deutlich besser vertreten. Ich habe keine Scheu mehr, meine
neue Körperhaltung signalisiert mehr Sicherheit. Ich liebe meinen Körper zwar
nicht mehr oder weniger als zuvor, aber ich finde ihn viel schöner!
Während meiner Reflektion, während ich immer noch zeitlos
dahinschweife kommt mir ein Gedanke: Warum hast du dich eigentlich niemals
bedankt? Bedankt? Bei wem eigentlich? Bei dem Chirurgen? Bei der Krankenkasse?
Ich stöbere in meinen verstaubten Unterlagen der Operation aus dem Jahre 2006.
Der erste Briefkontakt zur Kostenübernahme fand bereits in 2005 statt. Ich überfliege
den Schriftverkehr aus der damaligen Zeit: Lungenfunktionstest, CT, MRT, EKG,
MDK, blablabla!
Ich bekomme das Bedürfnis mich zu bedanken wie noch niemals.
Ich erinnere mich an die Sachbearbeiterin der Krankenkasse mit welcher ich
damals so viel telefoniert habe, welche ich versuchte zu überzeugen, welche ich
beredete und auch anflehte. Ich suche ihren Namen und ihre Telefonnummer aus
dem Schriftverkehr aus 2005 heraus und frage mich: „Hat sich bei dieser Frau
schon mal jemand dafür bedankt was sie tat?“ Wohlwissend dass es nicht sie
alleine war, welche die Frage der Kostenübernahme entschieden hat verspüre ich
das Bedürfnis mich bei ihr zu bedanken. Auch wenn ich damit alleine stehe, auch
wenn das nicht durchschnittlich und somit unnormal ist.
Ich finde mich am Telefon und wähle die damalige Nummer und
hoffe, diese Frau dort zu erreichen. Nach kurzem Klingeln spricht eine
freundliche Frauenstimme in den Hörer. Ich erkläre ihr, dass ich Versicherter
bin und dass wir im Jahre 2005 viel Kontakt wegen einer Trichterbrustoperation
hatten. Stille! Stille! Stille! Schnell merke ich, dass diese Dame schon jetzt
etwas überfordert war und erkläre ihr daher, dass es vielleicht etwas verrückt
sei, aber, dass ich mich nur bei ihr bedanken wollte. Bedanken dafür, dass sie
mir ein neues Leben geschenkt hat. Ich erzähle ihr von der damaligen Zeit und
merke, dass sie emotional sehr gerührt war. Ich wusste, dass ich ihr in diesem
Moment etwas zurückgeben konnte. Anerkennung für ihren Job, Dankbarkeit sowie
ein tiefes Gefühl der Verbundenheit. Der Abschluss des Gespräches war etwas
komisch. Wir hatten zwischenzeitlich etwas länger telefoniert als ich sagte: „Dann
sollten wir jetzt vielleicht aufhören. Wir kennen uns nicht, wissen nicht wie
wir aussehen und werden vermutlich auch nie mehr wieder etwas voneinander
hören. Es war mir gerade wichtig ihnen das zu sagen.“. Ich merkte, dass wir uns
beide schwer taten das Gespräch zu beenden. Ich merkte, dass dies eine
Situation war, welche nicht den beruflichen Alltag dieser Dame abbildete. Ich merkte
dass dies eine besondere, vom Durchschnitt abweichende Situation für uns beide
war. Ich merkte, dass es gut war was ich tat.
Als das Gespräch beendet war überkam mich ein Gefühl von
Glück. Ich war mir sicher, dass es einen Sinn hatte warum ich diese Frau genau
heute angerufen habe. Vielleicht brauchte auch sie heute jemand. Vielleicht
hatte sie ja Ärger mit dem Vorgesetzen, vielleicht hatte sie schon wieder das
zigste Gespräch mit unzufriedenen Versicherten geführt, welche sich nur über
sie aufregen. Ich war mir sicher, dass es eine Bedeutung hatte, deren Tragweite
meine Vorstellungskraft überstieg und beschloss mir etwas zu kochen. Vielleicht
würde ich es ja heute noch ins Training schaffen. Ein ganz durchschnittlicher
Tag eben…